Rolf Suter: Im Bann des Walknut (1)

Bewertung: 5 von 5.

Ein junger Mann, ein Wikingersohn, wird von Odin auserkoren, auf Erden dessen Männern beizutreten, seinen Wolfskriegern, den Berserkern.
Eric soll mit ihnen Odins Willen durchsetzen. Dafür erhält er eine Gabe, die nie ein Normalsterblicher erreichen kann.
Die Wolfskrieger testen ihn und nehmen ihn in ihrer Gemeinschaft auf. Sie unterrichten und lehren ihn, seine neu erlangten Fähigkeiten zu nutzen. Zusammen reisen sie in Odins Namen an Orte, die er noch nie gesehen. Er kämpft in Odins Namen gegen die christlichen Kreuzträger und für Gerechtigkeit.


Rolf Suter

Im Bann des Walknut (1): Wolfskrieger

Blick ins Buch

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Gestern Abend hatte es endlich aufgehört zu regnen. Die Sonne vertrieb die letzten schweren Regenwolken am Himmel. Für mich war es ein schlechter Sommer. Zu feucht, zu kalt. Von nun ab würde es nicht mehr viele sonnige Tage geben, an denen ich hier auf der Weide in der Wiese liegen konnte – es war Mitte Oktober. Zu allem Unheil drehte sich alles nur um meinen Bruder Ulf, der im nächsten Frühling das erste Mal aufs Schiff gehen würde. Handel treiben oder zu Raubzügen ansetzen, zu Vikings, darum ging es jetzt auch für Ulf.

Ich stand an der Klippe, mein Blick schweifte über die silbern glänzende See. Die frische Meeresbrise, die am Morgen an den Klippen emporstieg, sog ich genüsslich ein. Der Himmel war an diesem Spätmittag mit Seevögeln bedeckt. Sie kreischten, sangen und stritten sich um die Beute. Meine Gedanken flogen mit dem Gekreisch der Möwen davon. Ich genoss die Sonnenstrahlen des Herbstes, als mich Ragnars Rufe plötzlich aus der Träumerei riss. Ich drehte mich um, sah, dass er mich zu sich winkte und sprang über die Wiese. Er sah mich mit strengem Blick unter seinen Augenbrauen an.

Ragnar sprach selten laut, Ragnar raunte eher in seinen Bart. »Eric, du bist ein Träumer. Werde erwachsen! Du bist schon vierzehn oder soll ich dir und den anderen erzählen, wie du in die Geschichte eingehen wirst als der Große und Weise Eric, der Träumer?« Als er mein Gesicht sah, musste er lachen und fuhr mit seiner Hand durch meine blonden Haare, bis sie zerzaust in alle Richtungen standen. »Komm, lass uns das Vieh näher an die Siedlung treiben. Am besten auf die Anhöhe, wo die Bäume stehen. Dort können wir sie besser über Nacht einzäunen.« Er gab mir meinen Treiberstock zurück, den ich ihm vor meinem Ausflug ans Meer gegeben hatte.

Ich nahm den Stock und brachte wohlweislich ein paar Schritte zwischen uns: »Na, mach schon, Ragnar, schnell, schnell, sonst müssen wir noch hier draußen übernachten. Gib deinem bösen Bein die Sporen.« Ich liebte es zu spötteln.

Auf die Antwort musste ich nicht lange warten. Ich spürte förmlich, wie er den Stock hob, um mir einen Hieb zu ver­setzen. Aber ich war schon außer Reichweite. »Warte nur, du kleiner Hundfutt, das setzt noch eine Tracht Prügel, und wenn’s beim Abendessen ist.«

Die Tiere einzufangen, war heute zum Glück kein großes Problem; wir hatten sie schnell eingezäunt. Wobei ich immer genug Abstand zu Ragnar behielt, um nicht von einer seiner großen, schwieligen Pranken erwischt zu werden.

»Eric, hilf mir mit der Stange, schnell!«

Ein Schritt zu viel! Wie ein Blitz schnellte sein Arm nach vorn und packte mich am Wams. Ragnar zog mich näher an sich heran, und – als wäre ich ein Floh – hob er mich, bis meine Füße keinen Boden mehr spürten. »So, du kleiner Hundfutt, wie gefällt dir das?«

Ich strampelte wie ein Fisch am Haken und überlegte, wie ich mich entziehen konnte.

»Wie fühlst du dich? Wer hänselt nun wen?«

Ich kannte ihn seit meiner Geburt und wusste, dass er bei meinem Vater und bei meinem Großvater in hohen Ehren stand – und dass sein Blut schnell erhitzt. Niemand würde mir helfen oder gar Ragnar zur Rechenschaft ziehen, wenn er mir eine Tracht Prügel verabreichte. Mehr noch, ich musste damit rechnen, von meinem Vater abermals eine Abreibung zu bekommen.

Da fielen mir auf einmal die Worte meines Vaters ein: ›Du musst deinen Gegner überraschen, mit etwas, womit er nie rechnen würde.‹ Also riss ich meine Arme hoch, packte Ragnars Haare, zog sein Gesicht an meines und küsste ihn auf die Stirn. Total perplex schaute er mich an und ließ mich los. Lachend stand ich auf, baute mich vor ihm auf. »Eric Träumer bezwang in fairem Holmgang Ragnar den Klugen, seinen besten Freund.«

Seine eisblauen Augen musterten mich ernst. »Nun, Kleiner, was führst du im Schilde?«

»Nichts«, entgegnete ich und trat näher, wobei ich seinem Blick standhielt. »Ich wollte dich schon lange um etwas bitten.«

»Was? Was willst du von mir?« Seine Augen fixierten mich immer noch.

»Lass uns dort an der Krete sitzen, es plaudert sich besser. Aber pass auf die Wurzeln hinter dir auf. Nicht, dass du noch stolperst, so wie du mich anstarrst.«

Verunsichert über das, was ich sagte, kontrollierte er den Boden; bei einer Drehung wäre er tatsächlich gestolpert. Schnell trat ich an seine Seite, um ihn zu stützen.

»Keine Eile mehr und keine Witze mehr, versprochen?«, sagte ich und schaute ihn ernst an.

Wir spazierten zur Krete und ließen uns ins weiche Gras fallen. Es war wunderbar hier. Die Sicht – traumhaft. Man konnte meilenweit in den Fjord hinaussehen, rechts unten lag unsere Siedlung. Die letzten Sonnenstunden des Tages tauchten alles in Silber und Gold.

»Ich weiß nicht, Ragnar, ob ich diesen Flecken jemals verlassen könnte.«

Ich spürte seinen Blick. »Wieso, was meinst du?«

»Na, wie Ulf. Weil er uns bald verlässt!«

»Das ist doch normal.«

»Ulf ist stark und er soll sein Glück suchen. Die Welt ist groß und für einen Nordmann fette Beute.«

Ich entgegnete nichts. Wir saßen und genossen die Ruhe. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, als mich Ragnar in die Seite stieß. »Eric, was willst du von mir? Bedrückt dich was? Wie kann ich dir helfen.«

Ich wusste gar nicht, wie ich anfangen sollte. Ich sah ihn an und fing einfach an zu reden. »Ich weiß, dass du ein großer Krieger warst und sicher noch bist. Ich weiß auch, dass du weise bist und du die Zeichen ritzen kannst, sie lesen und wieder aussprechen. Du weißt, was ich meine, ich glaube, man nennt sie Runen. Bitte, lehre sie mich! Ich bin von ihnen fasziniert und kann mich ihrer Magie nicht entziehen! Vielleicht ist der Winter hart genug, und es bleibt noch Zeit, um zu zeigen, wie man die kleinen Äxte wirft.«

Er sagte nichts, sein Blick ruhte auf mir. Ich verstummte und nach gefühlten tausend Jahren gab er mir eine Kopfnuss.

»Lass uns gehen, Eric, das Abendessen wartet.« Ragnar stand mühsam auf und machte zwei Schritte. Ich stellte mich neben ihn und hielt ihn am Arm.

»Glaube mir, ich wollte dich nicht erzürnen. Es tut mir leid, dass ich dich gefragt habe. Es war dumm von mir.«

Er sah mich an und nickte stumm.

Ebenso stumm machten wir uns auf den Heimweg. Hinter mir hörte ich nur Ragnars Schnauben und Keuchen. Man spürte, dass ihm sein Bein wirklich Probleme machte, was er aber nie zugeben würde.

Hallvard, mein Vater erwartete uns schon. Er stand vor dem Eingang zum Haupthaus. »Hab schon geglaubt, ich müsste euch suchen.«

Ich begrüßte meinen Vater und steuerte auf den Brunnen zu, um mich zu waschen, während Ragnar etwas brummte und direkt im Haus verschwand.

»Was ist mit ihm los?«, fragte mich mein Vater. »Hast du ihn wieder gehänselt?«

»Nein«, entgegnete ich und ging auch schnell ins Haus.

Alle saßen an ihrem Platz und warteten, bis die Frauen das Essen auftischten. Es roch nach Eintopf und frischem Brot. Als die Schalen gefüllt und verteilt waren, langten alle zu und es wurde langsam ruhig. Man plauderte übers Tagesgeschäft, lachte und zog einander auf. Nur Ragnar saß stumm auf der Bank, selbst die Neckerei seiner Frau Astrid munterte ihn nicht groß auf.

Mein Vater beobachtete Ragnar schon lange. Ich spürte förmlich seinen fragenden Blick. Ich bemerkte, wie er abwechslungsweise Ragnar und mich beobachtete, ließ mir aber nichts anmerken, sondern flachste mit meinem Bruder Ulf weiter, das heißt, ich ertrug seine Faxen.

Als alle satt waren und das Essen abgeräumt war, gingen die Frauen an die Webstühle. Die Männer nahmen ihre Lederarbeiten in Angriff oder begannen mit dem Brettspiel. Ich sah, wie mein Vater durch Kopfbewegungen Snorre und Orm, Vaters Bruder, zu Ragnar lotste; die Zeichen waren unmissverständlich.

Etwas später kam auch Ronet, mein Großvater, mit einem Eimer Met dazu. Sie steckten die Köpfe zusammen, aber ich konnte weder etwas hören noch die Stimmung lesen. Manchmal wurden die Stimmen lauter, man fuchtelte mit den Armen, aber nie traf mich ein Blick. Ronet schenkte ihnen neu ein – und ich hielt es nicht mehr aus. Ich konnte mich sowieso nicht aufs Brettspiel konzentrieren; Ulf hatte mich schon mehrmals geschlagen.

Ich stand auf und ging zu ihnen. »Ich möchte mich entschuldigen, dass ich Unfrieden gestiftet und Ragnar erzürnt und beleidigt habe. Es tut mir leid, wirklich.«

Ruckartig drehte sich mein Vater um und herrschte mich an. »Geh ins Bett, ich will dich heute nicht mehr sehen. Wir sprechen uns morgen!«

Ich fand weder Ruhe noch Schlaf. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich drehte mich von Seite zu Seite, doch es half alles nichts.


Das Licht war noch recht fahl, als ich mich morgens aus dem Haus schlich. Ich atmete die kühle Luft ein. Steckte ein Stück Brot und Käse aus dem Vorratsraum in meinen Beutel und machte mich auf den Weg. Zielstrebig erklomm ich den Hügel. Oben löste ich die Stangen, die das Vieh über Nacht gefangen hielten und trieb es auf die Weide. Ich setzte mich auf die Krete, an der ich gestern mit Ragnar gesessen hatte, öffnete den Beutel und brach ein Stück Brot und Käse ab. Ich sah mich nach dem Vieh um, das sich langsam auf der Weide ausbreitete und das saftige Gras zu fressen begann.

So wie es mir Ragnar einmal erzählt hatte, war die Weide entstanden, als unsere Vorfahren hier die Bäume gefällt hatten, die sie für den Bau unserer Häuser brauchten. Nun führte ein breiter Pfad in zwei Kurven hinauf. Hinter der Weide erstreckte sich der dichte Wald. Ging man an der Krete an unserem Dorf und der Küste entlang und durch den Wald, kam man auf der anderen Seite zu unseren Nach­barn, den Björnsons. Ich kannte sie nicht, aber alle sagten, es sei eine komische Familie und wir unterhielten keinen Kontakt zu ihnen. Nicht wie zu denen auf der anderen Seite des Fjords, den Haraldsons, die wir manchmal besuchten oder sie uns. Schlug man den Weg über die Weide ein, war der Wald ohne Ende, wie mir schien. Es floss ein Bach hin­durch, aber wo er endete, wusste ich nicht.

Während ich aß, schweifte mein Blick zurück und wanderte über unsere Siedlung, die noch verschlafen unter mir lag. Feine Rauchfahnen stiegen aus dem Rauchabzug im Dach.

Es war ein ruhiger Anblick. Auch das Meer zeigte sich in gelassener Stimmung. Sanft schlugen die Wellen auf den Kiesstrand und umspülten die Klippen, im Sommer ein Nistplatz der Seevögel. Der Strand war höchstens fünfzig Meter breit und stieg schnell an. Oben stand eine Mauer aus Steinen, die vom Klippenbruch stammten und mit Erdreich und Grassoden bedeckt waren. Die Mauer hatte uns schon bei manchen Herbst- und Winterstürmen vor Überflutungen gerettet. In der Mitte der Bucht stand ein Felsen, oben flach. Er diente als Anlagestelle, zum Beladen und Entladen der Schiffe. Zwei Langschiffe hatten Platz, ohne sich zu behindern. Über eine Treppe kam man rechts zum Lagerhaus, links stand das Haus der Freien, wo Siglinde, Ara, Wulf und Erald leben.

Lief man weiter auf dem Bohlenweg, erreichte man den Dorfplatz. Rechts das Haupthaus, in dem meine Eltern Hallvard und Signy und mein Großeltern Ronet und Ingiborg sowie Ulf und ich lebten. Hinter dem Haus lagen der Stall und die kleine Weide, die im Spätherbst und Frühling genutzt wurde. Links standen die Häuser von Orm, Vaters Bruder, und seiner Frau Siegried, deren Sohn Stieg und Tochter Sif. Daneben lebte Ketil, unser Schmied, mit seiner Frau Ruda. Das letzte Haus, das wieder an der Küste stand, diente als unser Bootshaus, das im hinteren Teil von Snorre, dem Bootsbauer und Steuermann, mit seiner Frau Luna, seiner Tochter Ira und seinem Sohn Harald bewohnt wurde.

Alle Häuser waren zur See ausgerichtet und gegen die Klippen abgeflacht, außerdem waren die Dächer mit Gras bewachsen. So hatte der Wind nie eine Angriffsfläche; es herrschte zudem ein gutes Raumklima. Im Sommer war es herrlich kühl und im Winter kühlte es nie richtig ab. Und wenn alle Feuer brannten, wurde es zudem mollig warm.

Die Häuser bestanden weniger aus Holz, sondern aus Steinen, die Fugen mit Lehm beschichtet oder bis zum Dach mit Grassoden bedeckt. Das Bootshaus war das einzige, das ausschließlich aus Holz bestand. Hier gab es auch Fenster, die mehr Licht und Frischluft brachten. Bei schlechtem Wetter oder im Winter konnte man sie verschließen und mit Stroh abdichten.

Die wenigen Holzwände waren alle wirklich ein Kunstwerk, nein, einige von Ragnars Meisterwerken. Türpfosten und Fenstereinfassungen hatte er mit Schnitzereien reichlich verziert: Drachenkörper, in sich verschlungen und von Runen umgarnt. Die Enden des gekreuzten Dachsparrens zierten fauchende Drachenköpfe in unterschiedlichen Formen.

Als ich mit meinem Essen fertig war, stand ich auf und wollte mich abwenden. Doch ein Gefühl ließ mich nochmals zurückblicken, und ich sah meinen Vater, der den Weg zu mir einschlug. Schnell marschierte ich zur Herde, denn ich wollte nicht, dass er mich eventuell beim Sinnieren ertappte.

Kurze Zeit später hatte er die Weide erreicht und hielt nach mir Ausschau. »Eric, wo bist du?«

Ich trat aus der Herde. »Hier Vater.«

Er winkte mich zu sich. Beklommenheit überkam mich, doch ich rannte so schnell ich konnte zu ihm.

»Sie sind gut in Schuss«, sagte er. »Das Gras hier oben tut dem Vieh gut.«

»Ja, Vater, sie sind prächtig.« Ich wollte ausholen, aber er unterbrach mich.

»Ich weiß von Ragnar, dass dir die Tiere am Herzen liegen. Aber ich wollte über etwas anderes mit dir reden. Lass uns an deinem Lieblingsplatz sitzen und etwas essen und trinken, wie Männer.«

»Wenn du willst Vater, kann ich dir aus meinem Beutel etwas anbieten. Ich habe etwas zum Essen aus der Vorrats­kammer mitgenommen.«

Er brummte etwas in seinen Bart und fing an zu schmunzeln. »Ragnar und ich saßen die halbe Nacht zusammen und haben über dich beraten. Es fiel mir schwer, für dich das Beste zu finden. Ich will dir nun meine Entscheidung sagen. Du wirst aus dem Haupthaus ziehen, heute noch, und bei Astrid und Ragnar wohnen. Es ist alles vorbereitet und bestimmt. Sie werden dich die Runen lehren, wie man sie einsetzen kann, für Heilung und was weiß ich. Ab heute sind Astrid und Ragnar deine Zieheltern. Ich hätte gewollt, dass du einen anderen Weg gewählt hättest, etwa wie Ulf als Händler und Krieger die Welt zu erobern. Doch du hast dich anders entschieden. Du trittst nun Ragnars Erbe an, wenn du in anderen Ländern kämpfst. Sie werden dir mit Furcht, Abscheu, vielleicht auch Hass begegnen. Doch trittst du in ihren Schildwall, werden sie jubeln. Ihre Wunden wirst du nach der Schlacht pflegen und heilen, eventuell werden einige Freunde dich auch lieben. Es ist ein einsamer Weg als Wolfskrieger. Astrid und Ragnar werden nun über dich wachen, loben und bestrafen. Glaub mir, sie lieben dich und setzen alles dran, dich auszubilden. Mach mir und deiner Mutter keine Schande.«

Ich stand auf, beugte mein rechtes Bein, bis es den Boden berührte, und senkte den Kopf. »Ich werde euch nicht enttäuschen.«

Er legte seine Hand auf meinen Kopf. »Das weiß ich, du bist auch mein Sohn. Ab heute bist du von allen Pflichten entbunden. Sif und Erald, der Freie, werden die Arbeit für dich hier übernehmen. Das Einzige, wovon du nicht befreit bist, ist das tägliche Waffentraining, darauf bestehe ich. Bist du mit meinem Urteil zufrieden, Junge?«

Ich brachte meinen Mund kaum zu vor Staunen. Das Einzige, was ich entgegnen konnte, war »Aij, Vater.«

Er nestelte in seinem Beutel, zog zwei Trinkhörner sowie einen Krug Met heraus, und noch während er einschenkte, sagte er: »Nun lass uns endlich trinken. Mein Mund ist schon ganz trocken vom lauter Reden. Skol!« Er leerte sein Horn in einem Zug. »Lass uns das Horn noch genießen wie die Aussicht hier. Es ist wahrlich ein schöner Platz hier, sollte vielleicht mal mit deiner Mutter an einem schönen Herbstabend hier sitzen und …« Er lachte schallend und gab mir dabei einen Stoß in die Seite. »Komm, trink aus, es ist ein schöner Tag und uns erwartet noch viel Arbeit. Vor allem für dich.«

Ich hatte das Gefühl, als fiele ein großer Stein von seinem Herzen, nun alles geklärt zu haben. Ich hatte meinen Vater schon lange nicht mehr so fröhlich und ausgelassen gesehen.

Als wir wieder im Dorf waren, erwarteten uns meine Mutter und Astrid, die einen Korb im Arm hielt. »Komm Eric, wir müssen los, deine Kleider kannst du auch noch später holen.«

Mutter schmunzelte und ging ins Haus zurück, während mein Vater staunend nachschaute, als wir an ihm vorbeigingen.

»Wohin wollen wir?«, fragte ich, »Und wieso so eilig?«

»Der Tag ist noch jung und die Beeren und Kräuter sind noch frisch.«

Ich blieb sprachlos stehen. »Beeren und Kräuter?«

Astrid, die schon einen Abstand zwischen uns gebracht hatte, drehte sich im Laufen um. »Bäume, Kräuter und Beeren, alles ist mit den Runen eins. Wir fangen von unten an. Wir wollen, dass du verstehst, wie alles eine Einheit bildet. Heute will ich dir die Natur näherbringen und morgen wird Ragnar mit den Runen fortfahren. Du wirst sehen, wenn du das Rätsel gelöst hast … das Drachenschnitzen, die Runen zu malen und zu heilen, das wird alles immer leichter.«

Von dem Zeitpunkt an kam alles wie ein Wintersturm über mich. Astrid erklärte mir die Pflanzen, sie lehrte mich, Salben herzustellen, Heiltrünke anzusetzen. Ragnar brachte mir bei, die Runen zu verstehen. Er zeigte mir, wie man sie rief und schrieb, bei uns, bei den Dänen und auch bei den Engländern. Ich musste sie auf Hölzern ritzen und jede dabei an­rufen. Er erklärte mir, dass unser Alphabet Futhark hieß und warum. Dass der Name des Alphabets aus den ersten acht Runen bestünde. Dass es drei Aetts gab, das erste gehört Freyr, das zweite Odin und das letzte Thir. Er sang mir Odins Runenlied vor, das davon erzählt, wie er sie erhielt.

Mit dem ersten Aett begannen wir, und ich musste sie alle immer wieder rufen und ritzen, der Reihe nach. Astrid saß häufig bei uns und erklärte mir die passenden Bäume und Heilkräuter dazu. Fehu, die Erle und Nessel. Uruz, Birke und Sumpfmoos. Thurisatz, Eiche und Gartenlauch. Ansuz, Esche und Fliegenpilz. Raidho, Holunder und Beifuß und so weiter, bis das erste Aett beendet war – und dann wieder alles von vorn. Bis beide zufrieden waren. Dann das zweite und das letzte.

Bei all dieser geistigen Anstrengung kam mir das abend­liche Waffentraining immer gelegen. Es gab Abwechslung und Zeit für mich, den Tag zu vertiefen. Und dennoch brachte es mir öfter blaue Flecken und Prellungen.

»Eric, träume nicht, sonst bist du schneller tot als mit einer Frau im Bett!«, schrie er dann meistens.

Immer wieder hielten wir die Schilde zusammen, während mein Vater, Orm und Ulf anrannten. Wobei es mehr darum ging, Ulf darin zu schulen, wie man einen Schildwall knackt. Meistens hatte ich Ragnar oder meinen Großvater an meiner Seite. Sie zeigten mir, wie man Stiche und Schläge von unten und oben abwehren oder blockieren konnte.

Langsam spürte ich, wie in mir eine Veränderung stattfand. Alles, was ich früher als Zwang empfand, fing an, mir Freude zu bereiten. Ich begann zu denken – und zu handeln, zu denken, bevor ich handelte. Bei einem der Anstürme zog ich meine Holzaxt aus dem Gürtel und warf sie direkt auf Ulf. Sie flog durch die Luft und traf ihn oberhalb der Augenbraue, die sofort aufplatzte. Blut lief in sein Auge und über seine Wange. Er strauchelte und ließ seine Deckung sinken, ich sah Ronets Holzschwert. Es traf Ulf am Hals.

»Du bist tot, Ulf!«, hörte ich Ragnar rufen, während Ronet mir zu meinem Wurf gratulierte.

»Sehr gut, Eric!« Das war mein Vater. »Wäre es ein Ernstfall, hätte es uns einen Mann gekostet und Probleme in unserem Schildwall gebracht. Darum üben wir, um so etwas zu verhindern.« Mein Vater drehte sich zu Ulf. »Wenn du den Schild so gehalten hättest …«

Ulf taumelte jedoch und musste sich setzen.

»Was hast du, Ulf?«, fragte mein Vater.

»Ich bin verletzt, ich blute und was ist mit meinem Gesicht?«

Vater zog Ulf zu sich hoch. »Zeig mal, Junge.« Er schaute sich die Wunde an. »Na ja, Ulf, nicht besonders geeignet, um Mädchen zu imponieren, aber warte, lass mich genau sehen.«

Er zog sein kleines Messer aus seinem Umhang und setzte es am Ende der Platzwunde an. Mit einem Ruck zog er die Klinge bis zur Mitte der Stirn.

Ulf schrie. Er schrie laut vor Schmerz. »Vater was hast du gemacht?«

»So, Ulf, nun sieht deine Wunde besser aus. Gefällt mir, wirklich. Nun kannst du Geschichten erfinden, wie du sie erhalten hast. Geh zu Astrid und lass die Wunde verbinden und pflegen.«

Vater schaute Ulf nach. Als der außer Hörweite war, fingen alle um mich herum an zu lachen. Ich schaute sie verständnislos und mit offenem Mund an.

»Warum hast du das gemacht Vater?«

Er lachte immer noch und winkte mit der Hand ab. Er kam auf mich zu, umarmte mich und meinte: »Ehre und Anerkennung erhältst du nur, wenn du Taten oder Narben vorweisen kannst.«

Und jeder stimmte ihm johlend zu.

Beim Abendessen saßen wieder alle am großen Tisch im Haupthaus zusammen; die Stimmung war ausgelassen. Es wurde gelacht, getrunken und wir trieben Späße. Ulf saß neben mir, wie immer. Seine Wunde war frisch genäht und mit einem Kräuterverband versorgt.

Mein Vater Hallvard stand auf und prostete meinem Bruder zu. »Ulf, du siehst gut aus. Lach wieder und trink.«

Ulf erwiderte jedoch »Ich habe noch Kopfschmerzen, Vater, es fällt mir schwer.«

»Aij, du wirst in deinem Leben noch viele Schmerzen erfahren, körperlich, wie seelisch und …«

Meine Mutter klopfte auf den Tisch, um das Ende des Gesprächs zu signalisieren.

»Signy, lass, es ist gut so, Ulf wird es erfahren. Manchmal laufen die Geschäfte gut und manchmal nur mit dem Schwert. Er wird Sklaven kaufen und wieder an jemanden verkaufen. Männer und Frauen töten, um ihr Hab zu stehlen. Alle von uns kennen das und haben Blut an den Händen, das wir nicht mehr abwaschen können. Dieses Gold ermöglicht unser kleines Paradies hier.« Großvater, Orm, Ragnar, Ketil und auch Snorre standen auf.

»Aij, Hallvard, auf Odin, Thor, Thir, Uller und dich. Auf deine Worte und auf unser Paradies hier. Skol.« Mutter fuchtelte mit den Händen und prustete, stand danach wortlos auf und verließ uns. Doch sie wusste, mein Vater hatte recht. Würden hier keine wehrhaften Männer leben, könnte sie sicher sein, ein anderes Schicksal zu erleben: Das Vieh gestohlen, die Frauen geschändet und verschleppt oder getötet und das Dorf niedergebrannt. Darum unter­stützte sie Hallvards Bemühungen, dass auch die Frauen ihren Beitrag zur Wehrhaftigkeit des Dorfs leisteten. Nicht mit Schwert und Schild, aber jeder wusste eine Sax zu gebrauchen und wirkungsvoll einzusetzen. Und mit Ketils Hilfe mit Pfeil und Bogen umzugehen und treffsicher zu schießen.


Das Buch ist als eBook und Taschenbuch im Buchhandel erhältlich.


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