Vierzig Seiten kunterbunte, nachdenkliche, besinnliche und humorvolle Beiträge unserer Autorinnen und Autoren aus dem Jahr 2020.
Es wünschen Ihnen gute Unterhaltung.
- Jenny Heil
- Friedhelm Marciniak
- Mrs.McH
- Karin Baumann
- Ruth Strasser
- Dagmar Finger
- Barbara Schlüter
- Anita Koschorrek-Müller
- Antje Haugg
- Rolf Suter
- Heike S. Rogg
- Martine Lestrat
- Carsten Kupka
- Stefan Ilius
- Harald Braem
Das ist erste Geschichte aus unserem Magazin.
Der Raum der Erinnerung
von Jenny Heil
Es war ein wunderschöner, lauwarmer Frühlingsmorgen, als Lena mit ihrer Großmutter Inge in der aufgehenden Sonne spazierenging.
„Ist das nicht herrlich?“, fragte sie ihre Oma.
„Das ist es. Es tut so gut, die
warme Sonne auf der Haut zu spüren“, antwortete Inge.
Ein paar Minuten gingen die beiden so nebeneinander her, unterhielten sich und genossen die wärmenden Strahlen. Plötzlich fasste Inge die Hand ihrer Enkelin: „Komm‘ mit, ich möchte dir etwas zeigen.“ Ruhig, aber bestimmend zog sie Lena in die Richtung eines Hauses, das nahe des Waldrands stand. Lena hatte es zuvor gar nicht bemerkt, es sah jedoch hübsch und einladend aus, weshalb sie ohne
Widerworte mitging. Doch als sie vor der Eingangstür stand, überkam sie ein seltsames Gefühl, dieser
Ort hatte etwas Unwirkliches an sich, etwas, das einen erschaudern ließ.
Unwillkürlich ging Lena einen Schritt zurück.
„Hab keine Angst. Du wirst sehen, dieser Ort ist ganz wundervoll“, meinte Inge mit beruhigender Stimme und zog Lena langsam zu sich. Lena sah in die warmen, freundlichen Augen ihrer Großmutter und nickte. Langsam griff sie nach dem Türknauf, öffnete die Tür und trat ein, ihre Oma folgte ihr.
Das Haus bestand nur aus einem einzigen riesigen, lichtdurchfluteten Raum. Er war leer, gänzlich leer, ohne Möbel. Er war nur hell, eine Helligkeit die lebendig wirkte.
„Komm“, Inge zog Lena weiter in den Raum hinein. Lena wollte zögern, doch dieser Ort hatte etwas Magisches, weshalb sie ihrer Großmutter folgte. Plötzlich hörte Lena Stimmen, bekannte Stimmen und Menschen erschienen wie aus dem Nichts. Sie erschrak ein wenig, doch ihre Großmutter sah sie liebevoll an und Lena fühlte sich sicher.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Lena leise.
„Das, mein Kind, ist der Raum der Erinnerung“, entgegnete Inge und ihre Stimme klang so friedlich.
„Der Raum der Erinnerung?“, Lena stutze.
„Ja, hier findest du alle Menschen, die in deinem Herzen wohnen, obwohl sie nicht mehr bei uns sind. Wen siehst du in diesem Raum?“ Inge deutete mit der Hand in das Zimmer hinein.
„Dort sehe ich Herr Mettler, unseren Nachbarn von früher, aber er ist schon lange tot. Und da steht auch mein Onkel Jakob und Frau Schneider, meine Lehrerin, die leider viel zu früh gestorben ist“, Lena fand viele liebe Menschen in diesem Raum, alle waren sie schon vorausgegangen.
„Wer ist das dort hinten?“, Lena deutet mit dem Finger auf einen jungen Mann in Uniform.
„Das ist dein Opa. So sieht er in meiner Erinnerung aus“, sagte Inge und lächelte. Lena blickte ihren Opa an, als plötzlich eine junge Frau neben ihm auftauchte. Die beiden schauten sich liebevoll an.
„Wer ist die Frau da neben ihm?“, Lena drehte sich zur Seite, doch ihre Großmutter war verschwunden.
„Oma? Oma wo bist du?“, sie blickte sich suchend um, doch Inge war nicht zu sehen.
Lena wandte wieder nach vorne, ihr Opa und die junge Frau waren noch da. Die junge Frau kam langsam auf sie zu und es war, als würde mit jedem Schritt älter werden, bis plötzlich Lenas Oma vor ihr stand.
„Denk‘ dran mein Kind, hier findest du jeden, der in deinem Herzen wohnt und nun auch mich. Sei nicht traurig, denn wie du siehst, wir sind alle noch hier und du kannst uns sehen, wann immer du willst“, Inge deutete in den Raum, der nun voller Menschen stand, die Lena freudlich zuwinkten.
Lena stockte der Atem und ihr stiegen die Tränen in der Augen, der Raum der Erinnerung verblasste…
Schreckhaft fuhr Lena zusammen, sie saß am Bett ihrer Großmutter und hielt ihre Hand. Neben ihr stand ihre Mutter und weinte.
„Sie ist gegangen“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme und fasste Lena an die Schulter.
Ihre Oma war tot.
Lena schaute sie an, wie sie ganz ruhig da lag, mit einem leichten Lächeln im Gesicht, als hätte sie gerade Lenas Opa wiedergesehen. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch dachte sie direkt an die Worte, die Inge in ihrem Traum zu ihr sagte…
„..wir sind alle noch hier und du kannst uns sehen, wann immer du willst.“


























